Motive und Strukturen neuzeitlicher Bevölkerungsmobilität

Personal am Bahnhof Willsbach an der Strecke Heilbronn-Crailsheim (Hohenlohebahn), um 1900. Quelle LABW (StAL PL 723 DK 51-155, Bild 1)
Personal am Bahnhof Willsbach an der Strecke Heilbronn-Crailsheim (Hohenlohebahn), um 1900. Quelle LABW (StAL PL 723 DK 51-155, Bild 1)

Mobilität ist zu einem zentralen Merkmal der Moderne geworden. Doch längst vor der Erfindung von Eisenbahn und Kraftfahrzeug waren Menschen unterwegs, legten aus den unterschiedlichstenMotiven Wegstrecken zurück.

Mobilität bezeichnet in den Sozialwissenschaften generell die Beweglichkeit, die es einer Person oder einer Sache erlaubt, innerhalb eines definierten Bezugsrahmens einen Positionswechsel durchzuführen. Dieser Rahmen legt verschiedene Arten der Mobilität fest. In der Mobilitätsforschung wird die Bevölkerungsmobilität – und um diese geht es hier – entweder dem gesellschaftlichsozialen Bezugsrahmen oder dem räumlich- geografischen zugeordnet. Während die soziale Mobilität den Auf- oder Abstieg eines Individuums oder einer Gruppe innerhalb der Gesellschaft erfasst, findet bei der räumlichen Mobilität der Positionswechsel im geografischen Raum statt.

Räumliche Bevölkerungsmobilität ist ein zutiefst menschliches Phänomen, das sich zu allen Zeiten nachweisen lässt. Doch erst in den letzten Jahrhunderten konnte sie sich aufgrund einer zunehmenden sozioökonomischen Differenzierung und in Verbindung mit einer rasanten Entwicklung der Transportsysteme zur gegenwärtigen Massenbewegung herausbilden. Ihre Auslöser entspringen meist individuellen Entschlüssen, können aber auch durch äußere Zwänge hervorgerufen werden. Neben Neugier und Suche nach dem Fremden, wie bei den frühen Abenteuerreisenden und den späteren Kavalierstouren, sind ökonomische Gründe ein wichtiges Motiv. Sie leiteten die Fernhandelskaufleute genauso wie sie heute hinter der modernen Arbeitsmigration stehen. Zur erzwungenen Mobilität, etwa durch Vertreibungen, kam es in Europa immer wieder durch politisch-konfessionelle Spannungen. Gerade das 20. Jahrhundert wurde zu einer Epoche, die in Deutschland, aber auch in ganz Osteuropa aus ganz verschiedenen Motiven zu Vertreibungen und Umsiedlungen führte.

Dass Sozialstrukturen in unterschiedlicher Weise Mobilität auslösen konnten, lässt sich anhand der Anerben- und Realteilungsgebiete zeigen. Im Anerbengebiet war der Abwanderungsdruck durch die weichenden Erben objektiv größer, doch entstand daraus kein Fortzugsautomatismus. Einzeluntersuchungen ergaben, dass selbst hier stets individuelle Konstellationen letztlich über Fortzug oder Verbleib entschieden. Gleiches gilt für die kräftigen Abwanderungswellen aus Baden und Württemberg während der Agrarkrisen des 19.Jahrhunderts. Auch hier standen letzten Endes individuelle Entscheidungen hinter jedem Auswanderungsbeschluss. Deshalb wanderten auch weniger die ärmsten Sozialgruppen, sondern eher einkommensstärkere Schichten ab. Denn Mobilität hat auch einen finanziellen Aspekt; sie muss bezahlt werden können. Die Ärmsten blieben häufig als Unterschicht an Ort und Stelle.

Die enorme Zunahme des Mobilitätsumfangs in den letzten Jahrhunderten wurzelt also weniger in neuen Motivstrukturen, sondern basiert auf den ständig verbesserten Transportsystemen samt dem dazugehörenden Ausbau der Infrastruktur. Die Entwicklung der Personenbeförderung im Südwesten lässt dies gut erkennen.

Das seit dem Spätmittelalter ausgedehnte Postwesen im Reichsgebiet hatte sich neben Brief- und Kleingepäckbeförderung bald auch dem Güter- und Personenverkehr angenommen. Etwa seit 1630 bis weit in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein verbanden Landkutschen, die planmäßig auf festen Routen verkehrten, die verschiedenen Regionen des Reichs. Diese offenen, ungefederten, auf Holzachsen fahrenden Leiterwagen waren extrem unbequem. So bekamen die auf Holzsitzen ohne Rückenlehne Reisenden nicht nur jede Straßenunebenheit unmittelbar zu spüren, sondern waren auch der Witterung direkt ausgesetzt. Ab 1742 setzte die Reichspost erstmals regelmäßig verkehrende geschwinde Postwagen auf der Strecke von Frankfurt am Main nach Basel über Mannheim, Karlsruhe, Freiburg im Breisgau ein. Sie waren dazu eine ganze Woche lang unterwegs. 1760 wurde die wichtige überregionale Verbindung von Paris über Straßburg/Strasbourg nach München und Wien eröffnet, die allerdings anfangs den Umweg über Offenburg, Heilbronn, Nürnberg nahm. Nicht nur solche Umwege, sondern auch die häufig schlechten Straßen führten zu langen Fahrzeiten. Durch den Gebrauch der üblichen Gabelfuhrwerke waren die selten gut befestigten Straßen und Wege nämlich in der Mitte meist so ausgetreten, dass dort das Wasser nicht abfließen konnte und der Morast eine Befahrung oft kaum mehr möglich machte. Daneben behinderte im Südwesten das Relief mit seinen kräftigen Steigungen über Schwarzwald und Schwäbische Alb die Durchlässigkeit vor allem im Ost-West-Verkehr. Trotz solcher Widrigkeiten war gerade diese Verkehrsrichtung stark frequentiert, wobei dort nach einem Bericht des Oberpostdirektors von Haysdorff 1756 vor allem lauter französische Dänzer, Operisten, Kammerdiener und dererlei Zeug so immer ab und zugeht. Darin spiegeln sich die engen wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zwischen Paris und den Residenzen des Reichs, besonders des Wiener Hofs wider.

Die mit enormem Aufwand betriebene Erneuerung und Verbreiterung der Poststraßen, die Vorschrift, dort statt der Gabelfuhrwerke nur noch die moderneren Deichselwagen zu verwenden, die Neutrassierung in den Gebirgsgebieten mit festgelegten Steigungen von maximal sechs Prozent – in Baden seit 1824, in Württemberg seit 1849 – sowie eine generelle Erweiterung des Routennetzes über Abkürzungsstrecken brachten eine Reduzierung der Fahrzeiten und eine Steigerung des Fahrkomforts. Die Folge war eine Aufstockung des Reiseverkehrs. Doch kamen diese Verbesserungsmaßnahmen zu spät.

Ein neues Verkehrsmittel, die Eisenbahn, stand ab 1834 in Baden und ab 1840 in Württemberg bereit. Es trat als Beförderungsmittel rasch in Konkurrenz zur Postkutsche, zumal die frühen Bahnverbindungslinien oft parallel zu den alten Hauptpostrouten verliefen.

Allmählich wurde die Postkutsche auf die schienenfernen Bereiche zurückgedrängt. Trotz des um 1900 letztlich recht dichten Schienennetzes in Südwestdeutschland gab es – reliefbedingt – immer noch genügend Räume abseits der Schiene. Früh kam daher der Gedanke auf, dort den von Gottlieb Daimler 1886 erfundenen vierrädrigen Kraftwagen zur Personenbeförderung heranzuziehen. Pionier einer solchen Kraftpost war bezeichnenderweise Daimler selbst, der dazu 1898 auf der durch die tiefen Taleinschnitte von Kocher und Jagst gekennzeichneten Strecke von Künzelsau nach (Bad) Mergentheim einen mit fünf Personen besetzten Viktoria-Motorwagen einsetzte. Ständige technische Schwierigkeiten und schließlich ein noch glimpflich ausgegangener Unfall bei Künzelsau beendeten den Versuch bereits ein Jahr später. Erst 1924 konnte hier ein regulärer Kraftpostbetrieb mit Autobussen aufgenommen werden.

Das Automobil als Transportmittel kam erst nach dem Ersten Weltkrieg zum Durchbruch. Doch bereits Mitte der 1920er-Jahre war abzusehen, dass das vorhandene Straßennetz dem wachsenden Kraftwagenverkehr nicht lange würde standhalten können, zumal auch Fuhrwerke noch wesentlich die Verkehrsverhältnisse bestimmten. So entstand die Idee, zur Verkehrsentzerrung und zügigeren Fortbewegung Nur-Autostraßen anzulegen. Diesen Gedanken setzte dann die Reichsregierung 1933 mit dem Bau der Autobahnen um. Der enorme Ausbau dieses Netzes nach dem Zweiten Weltkrieg wollte nicht nur dem inzwischen durch das Auto rapide gestiegenen Individualverkehr Rechnung tragen. Er hatte auch zum Ziel, eine möglichst rasche überregionale Erreichbarkeit aller wichtigen Wirtschaftsregionen des Bundesgebiets zu ermöglichen.

Das Walldorfer Kreuz, Aufnahme des Landesamts für Straßenwesen zum Autobahnbau, ab ca. 1935. Quelle LABW (StAL EL 75 VI c Nr 145, Bild 1)
Das Walldorfer Kreuz, Aufnahme des Landesamts für Straßenwesen zum Autobahnbau, ab ca. 1935. Quelle LABW (StAL EL 75 VI c Nr 145, Bild 1)

Heute ist der Individualverkehr jene Form der räumlichen Mobilität, die zunehmend kritisch gesehen wird. Allerdings ist es maßgeblich sie, welche jene räumliche Trennung von Tätigkeitsstandorten – Wohn-, Arbeits- sowie Erholungsstandorte – überwindet, die aus dem sozioökonomischen Differenzierungsprozess hervorgegangen ist. Und in dem Maß, in dem dieser Prozess fortschreitet, wird diese Mobilität selbst über größere Distanzen hinweg nicht nur weitergehen, sondern zunehmen.

Jörg-Wolfram Schindler

Quelle: Archivnachrichten 40 (2010), S.4-5.

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