Windgassen, Wolfgang Fritz Hermann 

Geburtsdatum/-ort: 26.06.1914; Annemasse (bei Genf, Haute Savoie)
Sterbedatum/-ort: 08.09.1974;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Sänger, Operndirektor
Kurzbiografie: bis 1932 Waldorfschule Stuttgart
1931 Beginn der Gesangsausbildung bei Alfons Fischer, später Unterricht durch den Vater
1932-1937 Technischer Volontär im Württembergischen Staatstheater, Windgassen besteht nicht die Bühnenreifeprüfung (1937)
1937-1939 Wehrdienst bei der Nachrichten-Abteilung 25 in Esslingen, gleichzeitig Fortsetzung des Gesangsstudiums
1939-1941 Kriegsdienst: Frankreichfeldzug, danach Besatzung in den Niederlanden
1941-1944 Abteilungsadjutant (Oberleutnant) in Stuttgart-Fellbach (Nachrichten-Ersatzabteilung 5), gleichzeitig erstes Engagement am Stadttheater Pforzheim. 24.01.1941 Debüt (Alvaro in „Die Macht des Schicksals“)
1944 01.09. Schließung aller Theater, „Totaler Krieg“, Verlegung der Einheit Windgassens nach Schwedt an der Oder, dann nach Tirol (Thannheimer Tal) im Frühjahr 1945
1945 (Mai) Rückkehr nach Stuttgart
1945-1974 Württembergisches Staatstheater, Gastspiele an allen bedeutenden Opernbühnen des In- und Auslands
1951-1970 jeweils im Sommer Bayreuther Festspiele
1964-1973 (ehrenamtlich) Präsident der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger, Vorsitzender der Gewerkschaft Kunst im Deutschen Gewerkschaftsbund
1967 Ehrenbürger der Stadt Bayreuth
1970-1974 Operndirektor der Württembergischen Staatstheater
1951 Württemberg-badischer, 1964 österreichischer Kammersänger; 1957 Preis „Orfeo d’Oro“ (Mantua)
1970 Großes Ehrenzeichen der Republik Österreich
1971 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1. 1939 Stuttgart, Charlotte, geb. Schweikher, Solotänzerin (geschieden 1957)
2. 1961 Stuttgart, Lore, geb. Wissmann, Opernsängerin
Eltern: Fritz Windgassen (1883-1963), Kammersänger, Professor an der Musikhochschule Stuttgart
Vali Jane Mila, geb. von der Osten, Opernsängerin (1882-1923)
Geschwister: Joachim (1917-1941, gefallen beim Untergang der „Bismarck“)
Kinder: 2 aus 1. Ehe
GND-ID: GND/118769243

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 485-487

„Was, singt der immer noch?“, fragte der berühmte Dirigent Hans Knappertsbusch zurück, als ihm im Jahre 1950 telefonisch ein Tenor Windgassen für eine Münchener Wagneraufführung empfohlen wurde, darüber aufgeklärt, daß es sich um den Sohn des Vaters handle, knurrte „Kna“: „Was, singt der auch schon?“ Zu diesem Zeitpunkt hatte allerdings der Sohn Windgassen seine Anfängerjahre hinter sich, und im Jahr nach diesem Gespräch sollte er in Bayreuth debütieren. Der Vater Windgassen hatte sich erst im Jahr vor diesem Telefongespräch – 1949 – in Liederabenden verabschiedet, die er zusammen mit seinem Sohn gab.
Eine Reihe von glücklichen Umständen begünstigte die Laufbahn Windgassens, der zum bedeutendsten Wagnertenor seiner Generation werden sollte. Wichtigster Glücksumstand war die jahrzehntelange vertrauensvolle Verbindung mit seinem Vater und Lehrer, der wohl sein bester Stimmbildner war und ihn, auf der Grundlage seiner vieljährigen Bühnenpraxis, auch noch in Zeiten des Weltruhms behutsam und sachkundig beriet. Eine zweite günstige Fügung bestand darin, daß der junge Windgassen in fünfjähriger Volontärtätigkeit auf, über und hinter der Bühne umfassende Kenntnisse des Theaterbetriebs und gleichzeitig der gesamten Opernliteratur erwarb, Erfahrungen, die sich bei seiner späteren Laufbahn als unschätzbar erweisen sollten. „Hinter jedem Wort verbergen sich Erfahrung und Erkenntnis“, urteilte ein späterer Rezensent über Windgassen auf der Bühne. Im militärischen Dienst fand er verständnisvolle Vorgesetzte, die dem jungen Leutnant eine wenigstens partielle Weiterführung seiner künstlerischen Aktivitäten ermöglichten, und selbst in den turbulenten letzten Kriegsmonaten und in der Katastrophe des Zusammenbruchs im Mai 1945 verließ ihn sein guter Stern nicht. Er überlebte und konnte sich unter den damaligen abenteuerlichen Umständen nach Stuttgart durchschlagen, wo er sich sofort um die Fortführung seiner Karriere kümmerte. Auch der etwas verspätete Einstieg in die Sängerlaufbahn sollte sich als Glücksfall erweisen: In dem kleinen Pforzheimer Theaterchen wurde er mit Aufgaben betraut, die seine stimmliche und künstlerische Entwicklung förderten. Er sang – am Abend, nach den militärischen Dienststunden – durchweg lyrische Partien wie den Tamino oder den Chapelou („Der Postillon von Longjumeau“) und Operettenrollen von Franz Lehàr bis Eduard Künnecke, die die Beweglichkeit und Leichtigkeit des Ansatzes und der Tongebung der sich stetig entwickelnden hellen Tenorstimme nicht gefährdeten.
Alle diese günstigen Umstände waren natürlich wesentliche Voraussetzungen für die spätere große Karriere; aber noch wichtiger waren die tägliche harte und entsagungsvolle Arbeit an sich selbst, der sich der Künstler unterzog, die asketische Bemühung um die makellose Führung seines Instruments, der Vox humana, und die ständige kritische Selbstkontrolle. Diese Eigenschaften, im Verein mit seiner hohen musikalischen Intelligenz und seinem Kunstverstand, befähigten Windgassen zu seinen außerordentlichen Leistungen auf der Opernbühne.
Es ist wohl in der Geschichte der Oper nicht ein zweites Mal vorgekommen, daß Vater und Sohn über mehr als fünfzig Jahre (1923-1945, 1945-1974) in unmittelbarer Folge dasselbe Stimmfach an derselben bedeutenden Bühne vertraten, wobei gleich hinzuzufügen ist, daß der Sohn 1945 keineswegs mit offenen Armen in Stuttgart empfangen wurde. Er erhielt zunächst einen Einjahresvertrag, und danach folgte, zu seiner peinlichen Überraschung, die Kündigung. Ein nicht sehr weitsichtiger Intendant war der Meinung, daß sich der junge Sänger zunächst auf kleineren Bühnen bewähren sollte. Zäh und unnachgiebig beharrte aber Windgassen auf seinem Recht, in einer „Vorzeigeoper“ zu singen, mit der er bei Bemühungen um ein anderes Engagement aufwarten könne, und setzte sich durch. Der Erfolg des Abends – „Hoffmanns Erzählungen“ – war durchschlagend: Die Kündigung wurde sofort zurückgezogen, und es folgte ein halbes Jahrzehnt kontinuierlicher und immer vom väterlichen Mentor begleiteter Entwicklung, mit vielen traditionellen Rollen des lyrischen Fachs im deutschen (Beethoven, Weber, Lortzing, Richard Strauß) und italienischen Repertoire (Verdi, Puccini, Leoncavallo, Mascagni). Im ganzen hat Windgassen an die 70 Partien gesungen, darunter nur wenige zeitgenössische (Hermann Reutter, Gottfried von Einem, Carl Orff, Paul Hindemith): „Die Moderne ist nichts für mich“ (Windgassen). Schon 1946 gab es einen Ausflug in das schwere Fach, der 32jährige sang erstmals den Florestan.
Den Durchbruch brachte ein „Meistersinger“-Gastspiel in München unter Knappertsbusch: Im Jahr darauf – 1951 – kam die erste Berufung nach Bayreuth. Neunzehn Jahre, bis 1970, war Windgassen unumstritten erster Tenor der Festspiele, in denen er alle in Betracht kommenden Partien des Wagnerfachs sang: Froh, Erik, Loge, Parsifal, Siegmund, Lohengrin, die beiden Siegfriede, Tannhäuser, Stolzing. Der Höhepunkt: „Der beste Tristan weit und breit, blankes, ebenmäßiges Piano in der Liebesnacht, vehement durchfurchte Ausbrüche in den Visionen des dritten Aktes“ (Peter Dannenberg). Schlankheit und Ebenmaß seines kernigen, nicht allzu voluminösen Organs – Johannes Schüler: „Die Stimme Windgassens hat mehr Inhalt denn Umfang“ – standen in eindrucksvollem Gegensatz zu den tenoralen Schwergewichten seiner Vorgänger in Bayreuth. Windgassen war der einzige Gesangssolist, der ununterbrochen 19 Jahre lang dorthin berufen wurde, mehr als jeder andere hat er Neu-Bayreuth geprägt. Freilich gab es auch hier wieder einen Glücksfall: die Begegnung mit dem Erneuerer der Festspiele, dem genialischen Wieland Wagner, der einmal bekannte, daß er der „Tristan“-Grundidee seines Großvaters Richard, der inneren Wahrheit des Stücks, „ohne Windgassen nicht auch nur die Spur der Verkörperung hätte geben“ können. Der tragisch frühe Tod Wielands im Jahre 1966 setzte der an Aufschwüngen und umjubelten Höhepunkten reichen Periode der Zusammenarbeit ein vorzeitiges Ende.
Die internationale Karriere des Sängers begann in den fünfziger Jahren, er konzentrierte sich von da an fast ausschließlich auf das Wagnersche Werk und wurde zum „größten Heldentenor unserer Zeit“ (Lauritz Melchior). Er sang unter allen bedeutenden Dirigenten seiner Epoche – genannt seien nur Furtwängler, Knappertsbusch, Karajan, Böhm, Keilberth, Solti, Leitner – und gastierte in allen bedeutenden Opernzentren: Wien, Berlin, München, Hamburg, London, Edinburgh, San Francisco, Paris, Barcelona, Buenos Aires, Rom, Mailand, Florenz etc. etc. An der Metropolitan Opera in New York sang er den Siegmund und die beiden Siegfriede mit großem Erfolg, konnte sich aber mit dem dortigen Opernbetrieb, „wo andere die Partien singen, die einem zustehen“, nicht befreunden. Dem Stuttgarter Stammhaus blieb er treu, Generalintendant Walter Erich Schäfer ließ seinem ersten Heldentenor anderswo nicht übliche Freiheiten des Gastierens. Darüber hinaus hatte sich in Windgassens Stuttgarter Jahren ein Ensemble herausgebildet – zu dem auch Windgassens Ehefrau Lore Wissmann gehörte, mit der er oft auftrat –, von dem Windgassen sagte, „das Familiäre, das Vertrautsein untereinander, ohne indiskret zu werden, das ist der Geist des Stuttgarter Hauses“. Viele Jahre war er Obmann seiner Kollegen und Vorsitzender des Personalrats, und hieraus ergaben sich die späteren hohen Funktionen in der ehrenamtlichen Vertretung der Berufsinteressen. Er war keineswegs nur ein Aushängeschild in diesen Ämtern, sondern verwendete viel Zeit und Mühe darauf, entsprechend der von vielen hochgeschätzten Gesinnung gegenüber seinen Kollegen, die keine Blasiertheit kannte.
Neben hymnischem Lob gab es selbstverständlich auch Kritik. Gestrenge Rezensenten bemängelten vor allem, daß er öfters mit der „Spardüse“ singe. Sehr spitz drückte dies Joachim Kaiser aus: „Wolfgang Windgassen, der sich manchmal allzu bewußt zu schonen und nur auf seinen dritten Akt – ‚Tristan‘ – zu warten scheint (gelegentlich sogar auf einen vierten, der gar nicht stattfindet) ...“ Aber Windgassen verstand es eben meisterhaft – zugegeben: des öfteren mit allzu ökonomischer Einteilung seiner Reserven –, seine ständig starken und stärksten Belastungen ausgesetzte Stimme durch die Jahrzehnte hindurch zu konservieren, und ironisierte solche Vorhalte, indem er auf Fragen nach dem Gelingen einer Aufführung zu antworten pflegte: Es ging „ökonomisch gut“.
Noch eine Woche vor seinem vorzeitigen und die Opernwelt bestürzenden Tod – ein Herzschlag setzte seinem Leben das gänzlich unerwartete Ziel – sang der Sechzigjährige den Florestan. Ein Kritiker fragte einst Knappertsbusch: „Was sollte man um Gottes willen tun, wenn Windgassen nicht in Bayreuth wäre?“ „Kna“: „Ihn schnellstens holen. Was sonst?“ „Der Unersetzliche“ war ein Nekrolog überschrieben.
Quellen: Mitteilungen von Rechtsanwalt Dr. Karlheinz Hugenschmidt, Karlsruhe (Kriegskamerad Windgassens)
Werke: Auf Schallplatten der Firmen Decca, Philipps, DG und EMI unter den Dirigenten Furtwängler, Solti, Böhm, Gerdes, Knappertsbusch und Keilberth fast das gesamte Wagner-Repertoire des Sängers
Nachweis: Bildnachweise: u. a. in: Kesting, Natan, Wessling (siehe Literatur)

Literatur: (Auswahl) Kurt Honolka, Wolfgang Windgassen, Berlin 1962; Alex Natan, Primo Uomo, Große Sänger der Oper, Basel 1963; Josef Müller-Marein/Hannes Reinhardt, Das musikalische Selbstportrait von Komponisten, Dirigenten, Instrumentalisten, Sängerinnen und Sängern unserer Zeit, 1963 (Wolfgang Windgassen 290-296, „Mein Vater und sein Sohn“); Berndt Wilhelm Wessling, Wolfgang Windgassen, 1967; Joachim Kaiser, Erlebte Musik von Bach bis Strawinsky, 1977; Peter Gammond, The Illustrated Encyclopedia of Recorded Opera, 1979; Jürgen Kesting, Die großen Sänger (Bd. 2) 1986; Karl J. Kutsch/Leo Riemens, Großes Sängerlexikon, 1987; MGG Bd. 13, Sp. 240, Bd. 16 Sp. 1962-1963; LB 4 Nr. 13617
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