Das Konzept der Kindererholungskur

von Hans-Walter Schmuhl

Das 1937 eröffnete Kinderkurheim „Schuppenhörnle“ in Falkau/Hochschwarzwald. [Quelle: Zentralarchiv der DAK]
Das 1937 eröffnete Kinderkurheim „Schuppenhörnle“ in Falkau/Hochschwarzwald. [Quelle: Zentralarchiv der DAK]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Das Konzept der Kinderkur, insbesondere der Kindererholungskur, entstand im späten 19. Jahrhundert im Grenzbereich von Bäderheilkunde (Balneologie) und Kinderheilkunde (Pädiatrie). In der frühen Bundesrepublik wurde es, unter Auslassung spezifisch nationalsozialistischer Elemente, die sich im Nationalsozialismus eingeschlichen hatten, fortgeschrieben.

Ausgangspunkt dieses Konzepts war der zivilisationskritische Blick auf die moderne Großstadt. Dabei wurde zunächst auf den Mangel an frischer Luft, Licht und Bewegung verwiesen. Schon früh wurde vor der zunehmenden Luftverschmutzung in den Städten gewarnt, die zu einem vermehrten Auftreten von Asthma, Bronchitis, Tuberkulose, Rachitis oder Hautkrankheiten führen könne. Der knappe städtische Lebensraum, der dem kindlichen Bewegungsdrang allzu enge Grenzen setze, galt ebenfalls als pathogener Faktor – Kinder hielten sich viel zu sehr in geschlossenen Räumen auf, woraus etwa Haltungsschäden resultieren könnten. Kritisch sahen viele Mediziner zudem die vermeintliche Mangel- und Fehlernährung in der städtischen Lebenswelt. Schließlich wurde immer wieder auch auf das „psychische Klima“[1] der Großstadt hingewiesen, das der Gesundheit der Kinder abträglich sei. Allgemein war von einer Reizüberflutung die Rede, die die Kinder überfordere. Insbesondere wurde vor dem Lärm der Stadt gewarnt. Stadtkinder litten, so die weithin vertretene Auffassung, häufig unter Nervosität und Schlaflosigkeit. Insgesamt führe die „Giftatmosphäre“[2] der städtischen Lebenswelt bei Kindern zu einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit, Überempfindlichkeit und allgemeinen Konstitutionsschwäche.

Würde der kindliche Organismus jedoch durch „gesunde Reize“ stimuliert, so die Grundidee der Kindererholungskur, dann würden seine natürlichen Widerstandskräfte gestärkt, der Organismus regeneriere sich von den Auswirkungen der „schädlichen Reize“ der urbanen Lebenswelt. In der Kur wirkten, so kann man es immer wieder lesen, verschiedene gesunde Reize auf das Kind ein: das Meeres-, Mittelgebirgs- oder Hochgebirgsklima, Solebäder, Inhalationen, Höhensonne, Gymnastik und Bewegung an frischer Luft, aber auch der Milieuwechsel, die Reiseeindrücke oder das Gemeinschaftserlebnis.

Ein Element der Großstadtkritik, das auch in den Schriften über das Kinderkurwesen immer wieder aufscheint, ist die Warnung vor dem Wandel des familiären Milieus in der großstädtischen Lebenswelt. Dieser Aspekt rückte in den Publikationen der 50er-, 60er-Jahre weiter in den Fokus. Das ist vor dem Hintergrund der Nachkriegsgesellschaft zu verstehen: Flucht und Vertreibung, Wohnungsnot, die gestiegene Zahl alleinerziehender Frauen, deren Ehemänner im Krieg gefallen oder in Kriegsgefangenschaft geraten waren, die steigende Zahl der Ehescheidungen, die Entstehung von Patchworkfamilien – all das schien darauf hinzudeuten, dass die überkommenen familiären Strukturen in Auflösung begriffen waren. Bei der Bewilligung von Kinderkuren spielten „soziale Gründe“ nicht selten eine ausschlaggebende Rolle, auch wenn sie nicht immer offen thematisiert wurden.

Stand in den frühen 50er-Jahren noch die Not der Nachkriegszeit im Vordergrund, trat später ein weiteres Element hinzu: die Sorge vor einer „Luxusverwahrlosung“[3] der Jugend in der modernen Konsumgesellschaft. Der Trend zur Kleinfamilie, die Abnahme der durchschnittlichen Kinderzahl, der Trend zum Doppelverdienertum, die Trennung von Arbeiten und Wohnen und der damit verbundene Funktionsverlust der Familie führe zu einer Lockerung der familiären Bindungen. Dies habe zur Folge, dass traditionelle Werte im Elternhaus kaum noch vermittelt würden.

Hier sah eine Kinderheilkunde, die sich zum Ziel gesetzt hatte, sich zu einer allgemeinen Kinderkunde weiterzuentwickeln, eine wichtige Aufgabe für sich: Es ging nicht nur darum, Stadtkinder körperlich abzuhärten, es sollte zugleich erzieherisch auf sie eingewirkt werden. Kontakte zum Elternhaus wurden für die Dauer der Kur auf das Allernotwendigste – meist in Form von Briefkorrespondenzen – begrenzt, wollte man die Kinder doch für einige Wochen ihrem vermeintlich ungesunden Herkunftsmilieu entziehen. Das pädagogische Regime in den Kinderkurheimen zielte auf „Gemeinschaftsfähigkeit“ ab. Die Kinder sollten zu einer homogenen Gruppe geformt werden, wobei das einzelne Kind lernen sollte, sich in die Gemeinschaft ein- und den Betreuerinnen unterzuordnen. Empfohlene erzieherische Mittel waren eine straffe pädagogische Führung, eine feste Tagesstruktur, die Übertragung von „Ordnungsdienst[en]“, eine konsequente „Gesundheitserziehung“, die Einübung „gute[r] Tischsitten“[4] oder die strikte Einhaltung von Ruhezeiten, schließlich auch Strafen bis hin zu körperlicher Züchtigung, auch wenn diese, so die offizielle Mahnung, zurückhaltend eingesetzt werden sollte. So fügte sich das Kurkonzept in die Tradition der „Schwarzen Pädagogik“ ein.

Anmerkungen

[1] Glanzmann, Die Bedeutung des Klimas, S. 12.

[2] Ebd., S. 14.

[3] Dazu: Ulrike Winkler / Hans-Walter Schmuhl, Heimwelten. Quellen zur Geschichte der Heimerziehung in Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werkes der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers e.V. von 1945 bis 1978, Bielefeld 2011, S. 29 f.

[4] Kleinschmidt, Durchführung, S. 59, 78, 81.

Quellen

  • Glanzmann, Eduard, Die Bedeutung des Klimas für die Erholung im Kindesalter, in: Kinderheime [und] Kinderheilstätten in der westdeutschen Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, hg. von Sepp Folberth, Lochham b. München 1956, S. 11-14.
  • Kleinschmidt, Hans, Über die Durchführung von Kindererholungs- und Heilkuren, in: Kinderheime [und] Kinderheilstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz, hg. von Sepp Folberth, 2. Aufl., Lochham b. München 1964, S. 25-89.

Literatur

  • Engelbracht, Gerda/Tischer, Achim, Zwischen Erholung und Zwang. Kinderverschickungen in das Adolfinenheim Borkum (1921–1996), Bremen 2023.
  • Gilhaus, Lena, Verschickungskinder. Eine verdrängte Geschichte, Köln 2023.
  • von Miquel, Marc, Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945. Organisation, quantitative Befunde und Forschungsfragen (im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen), URL: https://verschickungsheime.de/wp-content/uploads/2022/01/Studie-Verschickungskinder-in-NRW_sv_dok_2022.pdf (aufgerufen am: 18.4.2024).
  • Röhl, Anja, Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Gießen 2021.
  • Schmuhl, Hans-Walter, Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, München/Hamburg 2023.

Zum Autor: Dr. Hans-Walter Schmuhl ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld und freiberuflicher Historiker. Er hat verschiedene Arbeiten über geschlossene Heime für Menschen mit Behinderungen, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Fürsorgeerziehung sowie über Kinderkurheime veröffentlicht.

Zitierhinweis: Hans-Walter Schmuhl, Das Konzept der Kindererholungskur, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.

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