Verschickungskinder in Bonndorfer Kinderheimen

von Martha Weishaar

Repro des Kinderheim Luginsland in Bonndorf/Schwarzwald [Quelle: Martha Weishaar].
Repro des Kinderheim Luginsland in Bonndorf/Schwarzwald [Quelle: Martha Weishaar]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Bonndorf ist eine Kleinstadt im Südschwarzwald. Als Luftkurort und aufgrund der landschaftlichen Besonderheiten eignete sich Bonndorf für Kuraufenthalte. Im 19. und 20. Jahrhundert brachten renommierte Kureinrichtungen für Erwachsene dem Ort einen erkennbaren Aufschwung. Im 20. Jahrhundert wurde dieser durch den Betrieb von bis zu sieben Kinderheimen weiter befördert. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg wurden Kinder, die unterernährt oder in schlechtem Gesundheitszustand waren, zur Erholung nach Bonndorf verschickt. In den 50er- und 60er-Jahren kamen zu den bis dahin bestehenden zwei Einrichtungen weitere fünf Kinderheime hinzu. Untergewichtige Kinder aus ganz Deutschland sollten in gesunder Schwarzwaldluft an Gewicht zulegen. Eine weitere Zielgruppe waren atemwegskranke Kinder, die vornehmlich aus dem Ruhrgebiet kamen.

Die älteste und größte Einrichtung ist das „Steinabad“. Dessen erste urkundliche Erwähnung geht auf das Jahr 1589 zurück. Bereits damals wird neben einer Sägemühle „das neu erbaute Bad an der Steinach“ erwähnt. 1840 ließ Mühlenbetreiber Joseph Vogt eine Badewirtschaft an das Hauptgebäude anbauen und stattete diese mit einem Schwimmbassin sowie Einzelkabinen aus. Er richtete auch die ersten Fremdenzimmer ein. Vogts Sohn Benedikt baute 1870 auf dem Gelände ein Hotel und eine erweiterte Badeanstalt für Kurgäste. Das „Steinabad“ erlebte in den Folgejahren einen Aufschwung, warb mit Fichtennadel-, Sol- Schwefel- und anderen Heilbädern. Prominentester Kurgast dürfte Friedrich Nietzsche gewesen sein. Seine Blütezeit erlebte das „Steinabad“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts. 1925 erwarb der Landkreis Karlsruhe die Gebäude. Am 1. Juli 1926 nahm das Kindererholungsheim seinen Betrieb auf. In den Folgejahren wurde die Kapazität stetig erweitert. Bis zu 620 Kinder wurden jährlich aufgenommen, um Blutarmut, allgemeine Körperschwäche, Tuberkulosegefahr oder Unterernährung zu therapieren. Binnen sechs Wochen legten die Kinder durchschnittlich 2,25 kg Gewicht zu, einzelne sogar fünf bis acht Kilogramm. Die Jugendfürsorge des Landkreises Karlsruhe genoss breite Anerkennung. Die „Badische Presse“ würdigte am 23. Oktober 1928 das „Steinabad“ als „eines der schönsten Jugenderholungsheime Deutschlands“, das „größten Wert auf eine gute, kräftige Hausmannskost legt“. In der Zeit des Nationalsozialismus übernahm die Volkswohlfahrt den Betrieb und beherbergte in den Folgejahren obdachlose Mütter mit Kindern aus bombardierten Städten. Ab 1944 kamen keine Kinder mehr in das „Steinabad“, weil An- und Abreise mit der Bahn zu gefährlich gewesen wären. 1948 führte der Landkreis Karlsruhe die Erholungseinrichtung wieder fort. Allein zwischen 1948 und 1956 fanden 5.325 Kinder Aufnahme. Ab 1962 waren die Belegungszahlen rückläufig. 1966 wurde aus dem Kinderheim ein Schullandheim.

Das Kindererholungsheim „Waldfrieden“, vormals Poststation, wurde in den frühen 1920er Jahren von Wilhelmine Backhaus eingerichtet. Gesundheitsämter schickten Asthmatiker und Kohlestaub geschädigte Kinder aus dem Ruhrgebiet für die Dauer von sechs Wochen zur Erholung. Ortsansässige Ärzte betreuten die Kinder medizinisch. Bis zu 100 Kinder fanden gleichzeitig Aufnahme. In den 30er-Jahren richtete die Betreiberin zusätzlich ein „Pädagogium“ ein, um auch den Söhnen und Töchtern ortsansässiger Honoratioren die weite Fahrt in ein Gymnasium zu ersparen. 15-20 Kinder wurden von der Sexta bis Obertertia unterrichtet, also von der 5. bis zum 9. Klasse. Nachdem die Nationalsozialisten ideologisches Gedankengut im Unterricht einforderten, schloss Backhaus das Pädagogium. 1954 veranlasste Prälat Schleich, dass der Caritasverband Bonn den Waldfrieden erwarb, damit dort weiterhin Kinder Erholung finden könnten. 1978 wurde aus dem Kindererholungsheim eine Jugendherberge. Diese wurde im Jahr 2014 geschlossen. Nach langer Zeit des Leerstandes wurde das Gebäude an einen Bauunternehmer verkauft und in Wohnungen umgewandelt. Ein Nebengebäude wurde verkauft und zu Wohnzwecken umgebaut. Auf dem knapp zwei Hektar großen Freigelände entstanden außerdem mehr als 20 Wohnhäuser.

Eugen Hüls, Bruder von Wilhelmine Backhaus, erbaute in den 30er-Jahren das Kindererholungsheim „Luginsland“. Nach mehreren Erweiterungsmaßnahmen konnten hier bis zu 60 Kinder aufgenommen werden. Sie wurden von Bonndorfer Lehrkräften unterrichtet. Sechs bis acht Kinder schliefen gemeinsam in kleinen Schlafsälen. Als die Notwendigkeit für Kindererholung in den späten 60er-Jahren nachließ, bot das „Luginsland“ Ferienfreizeiten für Gruppen an. 1989 fanden Spätaussiedler aus der ehemaligen UdSSR Aufnahme in dem ehemaligen Kindererholungsheim. Später wurde das Gebäude verkauft, es wird heute privat bewohnt. Auf dem Freigelände entstanden etliche Wohnhäuser.

Helene Isele, die in den 1920er-Jahren als so genannte „Kindertante“ in der Einrichtung „Waldfrieden“ tätig war, richtete 1952 ihr gleichnamiges Kinderheim für Gäste im Alter von vier bis zwölf Jahren ein, das sie bereits vier Jahre später erweiterte. Zunächst wurden ihr über ein Sozialprogramm der saarländischen Eisenbahn Kinder zugewiesen. Nach dem Ende der französischen Besatzungszeit im Jahr 1957 wurden die meisten über das Landratsamt Kehl oder die Siegerländische Unternehmerschaft vermittelt. Nachdem in Bonndorf ein Mittelschulzweig eingerichtet worden war, beherbergte die Einrichtung außerdem zehn ältere Internatsschülerinnen und -schüler, ungefähr ab 1965 außerdem Kinder aus Portugal, Griechenland, Spanien oder Italien, die Deutsch lernen sollten. Diese Gäste wurden überwiegend durch private Kontakte auf die Einrichtung aufmerksam. 1969 wurde der Betrieb eingestellt.

Das Kinderheim „Schwalbennest“ mit anfänglich 25 Betten wurde in den 50er-Jahren von Gertrud Preuß eingerichtet. Die Kurgäste kamen überwiegend durch private Initiativen. Anfang der 70er-Jahre wurde der Betrieb eingestellt. Das Gebäude wurde in Eigentumswohnungen umgewandelt. Auf der Freifläche entstanden mehrere Wohnhäuser.

1953 eröffneten auch Marianne und Wilhelm Johnen ein nach ihnen benanntes Kinderheim mit einer Kapazität für bis zu 50 Kinder. Vertragspartner war die Deutsche Angestellten Krankenkasse. Nachdem der Bedarf an Kindererholungsheimen in den 70er-Jahren abflachte, wurden in dieser Einrichtung in den 80er-Jahren Asylsuchende einquartiert. Mittlerweile ist das Gebäude abgerissen. Auf dem Gelände wurde ein Lidl-Markt errichtet.

Bis in die 80er-Jahre hinein betrieb Gisela Arndt ein nach ihr benanntes Kinderheim, welches mit einer Kapazität von weniger als zehn Kindern das kleinste in Bonndorf war.

Der Tagesablauf in den Einrichtungen ähnelte sich. Die Kinder verbrachten bei Spaziergängen, Wanderungen, Ausflügen und Spielen möglichst viel Zeit an der frischen Luft. Nach dem Mittagessen galt strenge Mittagsruhe, dasselbe galt für die Nachtruhe unmittelbar nach dem Abendessen. Die Kinder wurden konsequent zum Essen angehalten, ihr Gewicht regelmäßig kontrolliert. In den familiengeführten Kinderheimen („Luginsland“, „Isele“, „Johnen“, „Schwalbennest“) war es selbstverständlich, dass die Kinder der Inhaber im Tagesprogramm mithelfen oder bei Überbelegung ihre Zimmer räumen mussten.

Infolge einer im Jahr 2013 in der Badischen Zeitung erschienen Serie über die Geschichte der Kindererholungsheime in Bonndorf stellten zahlreiche einstige Verschickungskinder Nachfragen. Manche interessierten sich für die Entwicklung der Einrichtungen, andere schilderten ihre Erinnerungen. Diese sind sehr unterschiedlich. Manche sind positiv besetzt mit schönen Gemeinschaftserlebnissen in wunderbarerer Umgebung und einfühlsamer Betreuung. Andere erinnern sich, dass es nur Reisbrei gab oder man zum Essen gezwungen wurde. Hin und wieder hätten laut Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Kinder selbst nach Erbrechen stundenlang vor ihren nur teilweise gesäuberten Tellern verharren müssen. Auch durften manche nach dem Zubettgehen nicht mehr auf die Toilette oder baten aus Furcht vor Bestrafung nicht darum und wurden somit zu Bettnässern. Einstige Gäste aller Einrichtungen berichten, dass Post an die Eltern zensiert wurde und deren Päckchen, etwa Geburtstagspakete mit Süßigkeiten, weggenommen wurden und untereinander geteilt werden mussten. In den meisten Fällen wird die abrupte, lange Trennung von den Eltern und starkes Heimweh als traumatisierend bewertet. Auch lange Zugfahrten, die Sechsjährige allein mit einem Schild um den Hals auf sich nehmen mussten, belasteten die Kinder.

Die Kinderheime beschäftigten eine Vielzahl von Mitarbeiterinnen in Hauswirtschaft und Betreuung. Sehr viele dieser Frauen fanden einen Partner, blieben dort und gründeten eigene Familien. Auch auf diese Weise prägten die Kindererholungsheime die Stadt Bonndorf nachhaltig. Noch heute besuchen einstmalige Kurgäste der Kindererholungsheime den Ort.

Literatur

  • Breitkopf, Bernd/Riesterer, Artur/Schmücker, Pia Daniela, Steinabad – Von der Mühle zum Schullandheim, Ubstadt-Weiher 2001.

Als weitere Quellen flossen persönliche Gespräche mit Dr. Gerand Isele, Margret Keller, Kurt Backhaus, Uta Weishaar, Richard Wagner, Dr. Ferdinand Müller und etlichen weiteren Personen in diesen Artikel mit ein.

Zitierhinweis: Martha Weishaar, Verschickungskinder in Bonndorfer Kinderheimen, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.

Suche