Vom Kerbholz zum Papier
Das Staatsarchiv Wertheim bewahrt ganz besondere Dokumente
Kerben in einem Holz. Ah! Kerbholz!
Diesen Begriff und das Sprichwort etwas auf dem Kerbholz haben hat eigentlich jede und jeder schon einmal gehört. Aber was ist das eigentlich? Ist es positiv oder negativ, etwas auf dem Kerbholz zu haben?
Für den Fall wenn jemand gibt und ein anderer empfängt (Panaitescu) sind Kerbhölzer variantenreiche und sinnflexible, dabei leicht verfügbare und mühelos bedienbare sowie auf Ausgleich ausgerichtete Beweismittel. Erste Belege einer derartigen Buchführung gibt es bereits aus dem Hochmittelalter. Der Clou: Man nehme das nächstbeste Stück Holz und spalte es in zwei Teile, den einen erhält der Gläubiger bzw. Arbeitgeber, den anderen der Schuldner bzw. Arbeitnehmer.
Bei jeder Einzelleistung werden beide Teile aneinandergelegt und die Kerbe (Quittung) über beide Teile geführt – Schummeln ausgeschlossen.
Nur selten sind beide Gegenstücke gemeinsam überliefert.
An diesem Beispiel ist das Prinzip der Kerbhölzer besonders gut zu erkennen, beschriftet sind die beiden Teile mit „Saltzkerb der schäfferey Habitzheym, angefangen Michaelis [29.9.] 1612“ sowie „Saltzkerb angefangen Michaelis 1612.”
Und ein besonderer Glücksfall ist es, wenn anhand begleitender Materialien die Bedeutung und Verwendung einzelner Kerbhölzer deutlich werden. So ist der Akte zur Güterpfändung des entwichenen, der Einbringung schlechter Münzen beschuldigten Juden Mosche Rosskamp ein Kerbholz beigefügt, das hebräische Schriftzeichen trägt.
Und den Verfahrensakten im Streit 1609 zwischen den Vormündern von Adam Bechtolds Kindern aus Ebenheid und Thomas Grein aus Wertheim, der bei Bechtold Schulden hatte, ist als Beweisstück ein Kerbholz mit der Einritzung XII beigelegt: und uber die 12 fl. zins eine kerben miteinander uffgericht, so hiebevor einkommen.
Ein ähnliches Prinzip wird bei den sogenannten Kerbbriefen angewandt. Bei dieser besonderen Urkundenform wurde der Vertragstext zweimal aufgeschrieben, danach das Papier oder Pergament zerschnitten und jedem der Vertragspartner ein Teil übergeben. Zum Beweis der Echtheit müssen beide Stücke zusammenpassen. In diesem Beispiel über den Verkauf der Badstube in der Eichelgasse vom 22. Januar 1604 sind sogar drei Kerbbriefe angefertigt worden, für den Käufer, den Verkäufer und die Stadt Wertheim. Dass hier zwei Teile erhalten geblieben und im Archiv überliefert sind, gehört zu den Ausnahmen.
Gelegentlich berichten ältere Archivbesucher, das Prinzip Kerbholz beim Gasthausbesuch ihres Vaters noch real erlebt zu haben. Doch in der Verwaltung der Grafschaft Wertheim setzte das Ende der Abrechnung mit Kerbhölzern Anfang des 17. Jahrhunderts ein: Auf der knappen, summarischen Bürgermeisterrechnung der Gemeinde Sachsenhausen von 1610 wird ausdrücklich vermerkt, dass die Rechnung alttem brauch nach biß hero mit kerben gehaltten, aber furhin [...] auffs babier gebracht und schrifftlich gehaltten werden soll. Die Gründe für den Materialwechsel werden hier leider nicht genannt, denn noch im Code Napoléon werden derlei Holzurkunden den schriftlichen als gerichtliches Beweismittel gleichgestellt.
Monika Schaupp