Geiger, Karl Wilhelm 

Geburtsdatum/-ort: 13.03.1855;  Esslingen
Sterbedatum/-ort: 29.06.1924;  Tübingen
Beruf/Funktion:
  • Bibliothekar, Leiter der Universitätsbibliothek Tübingen
Kurzbiografie: 1861–1869 „Pädagogium“ Esslingen
1869–1873 Ev.-theologisches Seminar Blaubeuren
1873–1877 Stud. theol. als Zögling des Ev.-theologischen Seminars („Stift“) in Tübingen
1877 Erste theologische Dienstprüfung
1877/78 Einjährig-Freiwilliger in Tübingen
1878–1879 Vikar in Gschwend, Oberamt Gaildorf
1879–1881 Repetent am ev.-theologischen Seminar Urach
1882 Promotion zum Dr. phil. in Tübingen; Dissertation (unveröff.): „Die Gretchentragödie in Goethes Faust“ (Gutachter: Karl Reinhold Köstlin)
1881 dritter, 1883 zweiter, 1888 erster Bibliothekar an der UB Tübingen
1895–1920 Vorstand der Bibliothek mit dem Titel Oberbibliothekar bzw. (seit 1919) Bibliotheksdirektor.
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Mitgliedschaften: Mitgliedschaften und Ämter: Mitglied der studentischen Verbindung Normannia (1873); Mitglied (1887), dann Leiter (1894) des Ortsvereins Tübingen des Ev. Bundes zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen, Mitglied des württ. Hauptvereins- und des Reichsausschusses; Mitglied des Kirchengemeinderates Tübingen (1905); Mitglied der Deutschen bzw. der Nationalliberalen Partei, nach 1919 der Deutschen Bürgerpartei; Gründer und Vorsitzender der Ortsgruppe Tübingen der Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes (um 1920).
Verheiratet: 1881 Sophie, geb. Kratz (1862–1953), Tochter des Gerichtsnotars Wilhelm Friedrich Kratz in Urach
Eltern: Vater: Karl Heinrich Geiger (1827–1901), Werkmeister in der Maschinenfabrik Esslingen, später selbständig
Mutter: Pauline Luise, geb. Findeisen (1835–1911)
Kinder: 6: Gertrud (1883–1949); Carl (1884–1885); Otto (1885–1983); Emilie (1886–1981); Reinhold (1889–1914); Martha (1892–1961)
GND-ID: GND/118813161

Biografie: Michael Wischnath (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 2 (2011), 71-72

In den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Universitätsbibliothek Tübingen zunehmend zur modernen, wissenschaftlichen Gebrauchsbibliothek, die sich an den Bedürfnissen ihrer Nutzer und nicht mehr wie vordem an den zufälligen Interessen und Neigungen des Bibliothekars orientiert. Karl Geiger, der die Bibliothek von 1895 bis 1921 leitete, steht dabei in mehrfacher Hinsicht für die „alte“ wie für die „neue“ Zeit. Als er 1881 die Stelle des dritten Bibliothekars erhielt, zog das Ministerium ihn als Landeskind noch einem von der Universität favorisierten nichtwürttembergischen Bewerber vor, der anders als er bereits bibliothekarische Erfahrungen vorweisen konnte. Als Geiger 1895 dem Orientalisten Rudolf von Roth (1821–1895) im Amt des Oberbibliothekars folgte, erhielt die Bibliothek erstmals einen hauptamtlichen Leiter. Bis dahin war die Stelle stets von einem Angehörigen des Lehrkörpers im Nebenamt versehen worden. Zwar hielt sich unter den Tübinger Bibliothekaren noch lange die Meinung, das für ihren Beruf nötige Fachwissen lasse sich in wenigen Monaten praktischer Arbeit erwerben, im Gegensatz zu seinen Mitarbeitern Robert Gradmann (1865–1950) und Karl Bohnenberger (1863–1951) sah Geiger jedoch in der Bibliothek seine Lebensaufgabe und ließ später in der Diskussion um seine Nachfolge keinen Zweifel, dass sie „ohne genaue Kenntnis der neuesten Ergebnisse und Fortschritte des Bibliothekswesens“ nicht geleitet werden könne. Tatsächlich trat nach kurzem Zwischenspiel – Geigers Stellvertreter und Nachfolger Bohnenberger wechselte nach nur einem Jahr auf ein germanistisches Ordinariat – mit Geigers Wunschkandidaten, dem aus der preußischen Bibliothekslaufbahn kommenden Georg Leyh (1877–1968), erstmals ein fachlich vorgebildeter Leiter an die Spitze der Bibliothek.
Herausragendes Ereignis in Geigers Amtszeit war der Bezug des heute nach seinem Erbauer Paul Bonatz (1877–1956) benannten Neubaus im Jahr 1912. Der in engem Zusammenwirken zwischen dem Architekten und Geiger geplante Bibliotheksbau galt damals als einer der schönsten und modernsten Deutschlands. Die Bibliothek rückte damit aus ihrer abseitigen Lage auf Schloss Hohentübingen ins Zentrum des seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen neuen Universitätsviertels, so dass sich die Präsenzbenutzung im Lesesaal in Jahresfrist verdreifachte. Der Buchbestand wuchs unter Geiger von ca. 327 000 Bänden im Jahr 1895 auf ca. 624 000 Bände 1920. Weit augenfälliger noch war die Vermehrung des Personals von sechs auf zehn und nach Bezug des Neubaus auf zuletzt 22 Mitarbeiter. Da der Ankaufsetat stets zu knapp bemessen war, suchte Geiger mit Erfolg einen Ausgleich durch den Ausbau der Tauschbeziehungen und den Erwerb ganzer Bibliotheken durch Ankauf oder Schenkung, wobei er durch Verkauf der Doubletten sogar noch zusätzliche Mittel erwirtschaften konnte.
Geiger hatte zwar den klassischen Bildungsgang eines württembergischen Theologen durchlaufen, aber der Pfarrberuf war wie für viele Zöglinge des Tübinger Stifts auch für ihn nicht das eigentliche Ziel gewesen. In seinen politischen und sozialen Anschauungen lebenslang geprägt von seinem Blaubeurer Seminarlehrer Karl Christian Planck (1819–1880) und dessen Philosophie teilte er dessen Skepsis gegenüber einem bekenntnisgebundenen, „dogmatischen“ Christentum. Den Ausweg sah er im „realistischen“ Lehramt, und dass ihm die Kirchenbehörde nach einem Vikariatsjahr eine Repetentenstelle am Seminar in Urach übertrug, entsprach ganz diesem Wunsch. In Urach unterrichtete er Deutschen Aufsatz, Literaturgeschichte, „Deklamation“ und Mathematik. Hatte er als Student neben der Theologie besonders Mathematik und neuere Sprachen getrieben, so wandte er sich jetzt in seinen Privatstudien der Philosophie-, Literatur-, Religions- und Kulturgeschichte zu und meinte mit der Dissertation sein wissenschaftliches Betätigungsfeld auf dem Gebiet der deutschen Literaturgeschichte gefunden zu haben. Die Breite seiner Interessen und Kenntnisse empfahl ihn schließlich auch für die Tübinger Bibliotheksstelle.
Sein Engagement im 1886 gegründeten Evangelischen Bund, der nach dem Abbruch des Kulturkampfes die Interessen des landeskirchlich zersplitterten Protestantismus gegenüber dem politischen Katholizismus vertreten wollte, führte ihn aber zurück zur Theologie und ihren Grenzgebieten, wobei ihn besonders „die Pathologie des religiösen Lebens“ und die Geschichte des Wunders anzogen. So setzte er sich in mehreren größeren Arbeiten polemisch-kritisch mit der Verehrung der „Guten Beth“ (Elisabeth Achler von Reute in Oberschwaben, 1386–1420) und den Marienerscheinungen von Lourdes oder La Salette auseinander. Wie es ihm von der Universität nahegelegt worden war, zog er sich seit 1895 mit Rücksicht auf sein Amt jedoch aus der konfessionspolemischen Schriftstellerei zurück und behielt nur die Leitung des Ortsvereins des Evangelischen Bundes bei. Dessen jährliche Lutherfeiern waren um die Jahrhundertwende populäre Großereignisse in der kleinen Universitätsstadt, und die Mitgliederzahl stieg unter seiner Ägide von 56 (1892) auf 450 (1907). Sein streitbares Temperament bewahrte der Bismarckverehrer Geiger auch in der parteipolitischen Auseinandersetzung. Persönlich war er dabei liebenswürdig, bescheiden und umgänglich, und mit seiner Gastfreundschaft soll das Tübinger „Hotel Geiger“ die von Ottilie Wildermuth geschilderten schwäbischen Pfarrhäuser noch weit übertroffen haben. Noch im Ruhestand sammelte er dort die Tübinger Freunde Wilhelm Raabes, den er seit langem verehrte und persönlich gekannt hatte, zu „Raabe-Abenden“.
Quellen: UA Tübingen, Bestände 117/607 (PA), 167/415 (PA). LKAS, Bestand A 127/758 (PA).
Werke: Digikat der UB Tübingen (auch unselbständige Veröff.).
Nachweis: Bildnachweise: Syré, 149.

Literatur: Ralf Werner Wildermuth, Der Bonatzbau der UB Tübingen. Funktionelle Bibliotheksarchitektur am Anfang des zwanzigsten Jhs., 1985; Ludger Syré, Die UB Tübingen auf dem Weg ins 20. Jh. Die Amtszeit Karl Geiger (1895–1920), 1986.
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